Werner H.

Es war - wie jetzt - ein Jahreszeitenübergang, von April zu Mai, von Winter zu Frühjahr, vom Kahlen zum Üppigen - da meldete ihm der kriegsversehrte Pförtner in sein Büro im Kreishaus, dass eine Frau mit Bollerwagen und kleinen Kindern darauf unten sei und warte. „Sie sagt, sie sei Ihre Frau". Das war ein Mittag in der Nachkriegszeit und sie war tatsächlich seine Frau und die Kinder seine. Das Kleinste kannte er noch nicht. Er war durch die Kriegsereignisse schon Monate vorher in den Westen verschlagen" und als Architekt gleich nach der Kapitulation im Kreishaus von der englischen Besatzungsmacht in Arbeit genommen. Neuplanung und -bauten waren Notwende. Seine Frau brach erst spät im Osten bei Frankfurt/Oder auf und kam mit dem Resttreck an, als die Sonne auf den Mittag der Kleinstadt schien. Er war nach unten gegangen, hatte sie und die Kinder schüchtern geküsst - der Pförtner schaute - und ihr eine Adresse gewiesen. Er sei noch im Dienst und der ginge bis fünf. In großen Szenen seines Lebens war er wohl ein Beamter seiner Gefühle. Was zum Überleben seiner ersten fünfzig Jahre mit Kaiser, Kanzlern und Tyrannen beitrug. In allen kleinen Szenen war er mir Vorbild. Z.B. wenn der Mai sich näherte. Dann wurde vor dem 1. Mai am Klavier geübt. Bis „Der Mai ist gekommen..." wieder in den Kehlen seiner Kinder und seiner Finger auf den Klaviertasten „saß wie seine Schwiegermutter im Lehnstuhl nebenan. Sehr temperamentvoll nämlich. Es wurde immer ein Fest, dies schmetternde Singen von Liedern, wenn es um Feste wie den Frühlingswillkomm, um Hoch und andere hohe Zeiten ging. Politisch oder als Vater schmetterte er kaum. Es war ein Fest, als später der erste elektrische Rasierapparat (Philipps, aus Holland) Einzug in der Wohnung des Herrn Baurats hielt, Hauptgeschenk für den Vater, zusammengesammelt von den größeren Kindern, die Taschengeld erhielten und durch Zeitungsaustragen oder Schrottsammeln vermögender waren. Alle standen um den Vater herum, als er das Kabel des exklusiven Geräts in die Wackelsteckdose der Dienstwohnung steckte und die elektrische Rasur erstmalig öffentlich vollzog. Es war ein Fest, das tagelang nachhallte in Tag- und Nachtträumen, als das Kino der Besatzungsmacht öffentlich wurde und die Familie auf den ersten Besuch erfolgreich hingespart hatte. Es waren Feste, wenn zu den Geburtstagen zwischen Frühjahr und Herbst mit den reparierten Vorkriegsrädern rausgefahren wurde in den Waldgasthausgarten und dort beschert und gepicknickt wurde - an Sonntagen später und an normalen Tagen vor Dienst- und Schulbeginn. Es wurde ein Riesenfest mit Windbeuteln und Tanz um das Geburtstagskind, als der Herr Oberbaurat - noch viel später - seine Frau beschenkte mit dem von ihm baugenehmigten Plan eines Hauses draußen bei uns in der Heide. Gebaut wurde später, gelebt wurde von der Vorfreude. Später in der Heide dann sammelte er auf seinen letzten Spaziergängen Getränkedosen und Bonbonpapiere, Kondomtrauerreste und Zigarettenkippen und versorgte sie zuhause. Werner H. starb jetzt und die Werner H.'s sterben aus. Wie so viele, die den Übergang vom Winter zum Frühling, vom Kahlen zum Üppigen nicht noch einmal wagen. „Und die Blätter schlagen aus", im Mailiedtext des Pastors Lyra aus Bevensen andere singen lassen. Vielen Dank für die Lehre von den kleinen großen Festen des Lebens, lieber Werner H. Wir haben bereits und singen für Sie mit. Wenn die Blätter ausschlagen, deren Knospen Sie noch ahnten.

30. April 2002